Schatten, Aura, Negativ, Spiegel, Glas

Noam M. Elcott

Interview mit Jakob Mattner

S. 19 – 21, S. 63 Autorenporträt, Katalog zur Ausstellung „Spiegelungen“, hg. Kunstsammlungen Chemnitz, Dr. Ingrid Mössinger, 2015



Noam M. Elcott: Schatten spielen eine enorme Rolle in Ihrer Arbeit: als ästhetische Praxis und als latenter Medienbegriff. Für mehrere Titel übernehmen Sie den chinesischen Terminus für Kino: „elektrische Schatten“. In ähnlicher Weise war ein früh verwaister englischer Terminus für Fotografie (das Schreiben des Lichtes): „Sciagraphy“ (das Schreiben des Schattens). Also zwei Fragen. Erstens: Was bedeutet Schatten bei Ihnen? Zweitens: Wie verstehen Sie das Verhältnis zwischen Film und Fotografie in Ihren Schattenspielen?

Jakob Mattner: Der Schatten hat viele Bedeutungsebenen. Wir haben den Schatten reich gemacht. Für mich ist seine Existenz wichtig, weil er mir Auskunft gibt über das Licht. Der Schatten führt mich zur Quelle, aber nicht, indem ich ihm folge. Stattdessen bewege ich mich in die entgegengesetzte Richtung. Schatten sind für mich wie Ereignisse, deren Ursache ich erst später sehe. So wirft z.B. bei einer meiner Zwielicht-Skulpturen eine gläserne Ellipse den Schatten eines vollkommenen Kreises auf die Wand. Durch das Licht, das diese Situation erst sichtbar macht, erfahre ich zwei Zustände: die Mangelhaftigkeit der materiellen Form (Elleipsis = Mangel) und die Vollkommenheit des ephemeren Schattens. Zu Ihrer zweiten Frage: Wenn Spielen die Möglichkeit der Aneignung von Wirklichkeit ist, bin ich mit dem Begriff „Schattenspiel“ einverstanden. Meine Ausstellung ist eine dunkle Kammer. Die Menschen in der Ausstellung sind auf dem Set, dort, wo die Bilder entstehen, die sie sehen. In der Ausstellung zeige ich keine Fotografien und keine Filme, sondern nicht fixierte Licht- und Schatten-Erscheinungen. Wir sind also in einem Zustand, der dem Foto und dem Film vorausgeht. Wenn man so will, sind wir, die Betrachter, in der Ausstellung die Kameras, die Aufnahme- und Entwicklungs-Instrumente. Wir sind dabei aufs Engste verbunden mit der Entwicklung der Fotografie. Was ich mit meinen neuen Arbeiten vorstelle, hätte auch vor einer Zeit der Reproduzierbarkeit stattfinden können. Insofern sind Betrachter meiner Licht-installationen stärker am Vorgang der Bildentstehung beteiligt als z.B. bei den Gouachen der Fluss-Spiegelungen, die im Atelier hergestellt wurden und „fixiert“ sind.

N.E.: In Elektrische Schatten projizieren Sie einen Ast mit Zweigen durch einen Spiegel an die Wand. Der Ast wird von einem Theaterscheinwerfer angestrahlt und hängt an einem Nylonfaden. Durch einen kleinen Ventilator bewegt sich der Ast langsam.Das Ganze erinnert mich an Walter Benjamins bekannte Begriffsbestimmung von Aura in seinem „Kunstwerk“-Aufsatz: „Was ist eigentlich Aura? Ein sonderbares Gespinst aus Raum und Zeit: einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag. An einem Sommernachmittag ruhend einem Gebirgszug am Horizont oder einem Zweig folgen, der seinen Schatten auf den Ruhenden wirft – das heißt die Aura dieser Berge, dieses Zweiges atmen.“ 1 N.E.: Film – oder „elektrische Schatten“ – ergibt nach Benjamin die Zertrümmerung der Aura. Ihre schönen, fragilen Installationen scheinen unentscheidbar angespannt zwischen Aura und Reproduzier- barkeit, Natur und Medien, Kunst und Technik. Streben Sie nach einer endgültigen Lösung der Gegensätze oder bleiben Sie immer im Konflikt mit ihnen?

J.M.: Aura und Reproduzierbarkeit sind nicht nur Gegensätze. Die Porträts von Warhol haben eine Aura. Oder die frühen Filme von Renoir, wenn z.B. Menschen in einer Landschaft unterwegs sind und beiläufig sieht man unverbaute Landschaften, Flüsse in ihrem natürlichen Verlauf, eine andere Gelassenheit im Verhältnis zwischen Natur und Menschen. Das Augenmerk der Kamera liegt auf den handelnden Personen. Gewissermaßen als „Beifang“ zeigt uns Renoir Bilder, die dem Erleben im Zitat von Walter Benjamin sehr nahe kommen. Wir haben es bei Warhol wie bei Renoir mit reproduzieren- den Medien zu tun. Ich würde aber diesen Werken eine Aura nicht absprechen. Die Zeit hat die Gegensätzlichkeit und unsere Auffassung von Aura verwischt. Aura und Reproduzierbarkeit schließen sich für mich nicht mehr aus. Natur und Medien, Kunst und Technik ebenfalls nicht. Meine Trennlinien verlaufen anders. Ich versuche, Konflikte in meiner Arbeit und in meinem Denken anders zu lösen. Den Zustand der Anspannung meiner Arbeiten erhöhe ich sogar. Ich spitze ihn zu. Ähnlich wie die Astronomen, die heute Hilfsmonde einsetzen und damit künstliche Sonnenfinsternisse herstellen, damit sie Licht-Phänomene sehen können, die sonst überblendet werden (die aber vorhanden sind), gehe ich nicht ins Helle, sondern ins Dunkle, um Licht sichtbar zu machen. Wenn meine Bilder eine Aura haben, geschieht dies nicht durch vorenthaltene Informationen. Alles ist sichtbar, auch die Instrumente. Wenn sich eine Atmosphäre einstellt, die über die Mittel hinausweist, die ich einsetze, dann entsteht eine Aura. Ich will die Anspannung, über die Sie gesprochen haben, nicht nur halten. Ich stelle die Anspannung her. Sie ist Teil meiner Entscheidung, das Zwielicht, das „Dazwischen“ zu meinem künstlerischen subject zu machen. Der Konflikt, auf den Sie hinweisen, könnte auch die Lösung sein. Meine Existenz als Künstler ist nicht zu trennen von meiner persönlichen Verfasstheit. Ich habe immer das Gefühl, ich stehe auf dünnem Eis. Die von mir empfundene Unbehaustheit, das Nicht-Verwurzeltsein, ist nichts Ungewöhnliches, vor allem für Künstler. Bei mir hat es sich seit meiner Kindheit nicht gelegt. Es ist nichts stabil geworden. Da scheint kein Lebenskonzept zu sein, eher ein Konglomerat aus Neigung, Verlust, Mangel, Glück, das irgendwie ineinanderfällt und schwer auseinanderzunehmen ist. Das kehrt in meiner Arbeit wieder. Es ist dieser Zustand der Gegensätze, den ich in meiner Arbeit erreichen muss. Ich beobachte, dass ich immer wieder ähnlich vorgehe. Ich nutze physikalische, chemische und optische Gesetze, um einen Schwebezustand zu erreichen. Da sind instrumentalisierte Wege (Umwege), durch die auch Willkürliches, von mir nicht Geplantes, in das Ergebnis einfließen kann. So wie Claude Lorrain in dem sogenannten Claude-Glas durch den rückwärtsgewandten, geschwärzten Blick eine Wahrheit aufscheinen lassen konnte.

N.E.: Fotografische Reproduzierbarkeit beginnt nicht mit Daguerre – dessen Daguerreotypien Unikate waren – sondern mit William Henry Fox Talbot. In seinem The Pencil of Nature (1844 –1846), dem allerersten marktüblichen Fotobuch der Geschichte, spielt Fox Talbot mit dem Negativ/Positiv-Verfahren. Er veröffentlichte eine kameralose Aufnahme von (vermutlich) weißer Spitze, die nicht weiß erscheint durch die Farbe des Stoffs, sondern aufgrund seiner Undurchlässig- keit, seiner Opazität. Mit Ihrem Irrstern II negativ und Irrstern II positiv setzen Sie ebenfalls ein Negativ/Positiv-Verfahren ein. Können Sie diesen Vorgang beschreiben und die Funktion der Umkehrung in Ihrem Œuvre reflektieren?

J.M.: Die Umkehrung setze ich in meinen Arbeiten vielfältig ein. Bei den Elektrischen Schatten verändere ich durch die Stellung des Lichts zum Spiegel die Bildformate. Aus einem vertikal ausgerichteten Spiegel wird eine horizontale Projektion. Die Schatten der Zweige erscheinen spiegelverkehrt auf der Wand; sie erfahren dadurch einen anderen Ausdruck. Sie verändern sich in ihrer Erscheinung, aber sie bleiben ihrem Wesen treu. In den Gouachen der Fluss-Spiegelungen dehne ich die Zeit. Der Fluss dient als Spiegel und ist mit dem Bild, das er mir zeigt, nicht materiell verbunden. Das Bild steht. Der Fluss fließt. Dass mir diese Konstellation, in der Bildträger und Bild (das Wasser und die in ihm gespiegelten Bäume) quasi unabhängig voneinander existieren, auch verschobene Zeiten zeigen könnte, habe ich durch die Montage zweier unterschiedlicher Blätter bzw. Zustände erreicht. Ein weitere zweiteilige Arbeit, die eine Umkehrung zeigt und die Sie angesprochen haben, ist Irrstern II negativ und Irrstern II positiv. Das Negativ ist ein mit Acryl auf Glas gemaltes Bild. Bei dem Positiv handelt es sich um einen Licht- druck. Normalerweise sind bei einem Negativ diejenigen Stellen dunkel, die im positiven Druck hell erscheinen. Und umgekehrt. Da ich das Negativ mit weißer Farbe hergestellt habe, welche die Belichtung der Druckplatte genauso abdeckt wie schwarze Farbe, habe ich als Ergebnis zwei Bilder, die nahezu identisch aussehen. Sie unterscheiden sich nur durch die spiegelverkehrte Erscheinung (und durch ihr Material Glas bzw. Papier; das erkennt man aber quasi nur, wenn man es weiß). Die Umkehrung und Vertauschung der Begriffe „Positiv-Negativ“ stellt letztendlich wieder einen Schwebezustand dar, über den wir eingangs sprachen. Ich bin hier auch einer Begriffsveränderung nachgegangen. Seit der Adaption der Sprache der Mediziner in den allgemeinen Sprachgebrauch ist die Bedeutung dieser Begriffe gekippt. Positiv ist negativ und umgekehrt. Was den Schrecken verursacht, ist der positive Befund.

N.E.: Ihr Medium ist Licht und Schatten. Ihre Vorrichtungen aber bestehen aus Spiegeln und Glas, wie László Moholy-Nagy in seinem grundlegenden Aufsatz „Pro-duktion – Reproduktion“ (1922) sozusagen vorausgeschrieben hat: „Wenn wir die Umwertung hier auch vollführen, müssen wir die Lichtempfindlichkeit der Bromsilberplatte dazu benutzen, die von uns mit Spiegel- oder Linsenvorrichtungen usw. gestalteten Lichterscheinungen (Lichtspielmoment) zu empfangen und zu fixieren.“ 2 Aus dieser theoretischen Einsicht stammen Moholy-Nagys kameralose Fotografien (genannt: Fotogramme) unter anderen zahllosen Werken. Wie ist Ihr Verhältnis zu Künstlern der Avantgarde wie Moholy-Nagy?

J.M.: Moholy-Nagy ist mir gleichzeitig nah und fern. Der Zweite Weltkrieg liegt wie eine Brandrodung zwischen mir und 21 ihm und anderen europäischen Künstlern der Avantgarde der frühen Moderne. Ihren Glauben an die von ihnen gestaltete Zukunft kann ich zwar nachvollziehen, bekomme ihn aber selbst nicht mehr hin. Ich bin ein skeptischer Euphoriker. Das ist die Ferne. Nah fühle ich mich Moholy-Nagy, wenn ich mithilfe meiner Skulpturen die Lichtdrucke (eine Schwester der Fotogramme) herstelle. Ich benutze dabei meine Glas-Skulpturen als dreidimensionale Negative. Bei ihrer Umwandlung in belichtete, fixierte Bilder findet eine Metamorphose statt, auch in der Dimension der Zeit. Die Dauer der Belichtung war in dieser Technik des 19. Jahrhunderts erheblich. Verglichen mit heutigen Belichtungszeiten kommt mir der „Lichtspielmoment“ ungeheuer ausgedehnt vor. Wenn wir, wie Moholy-Nagy schreibt, von uns her- gestellte Lichterscheinungen „empfangen und fixieren“, wird Zeit sichtbar. Plötzlich sehe ich in den Lichtdrucken meiner Skulpturen die Rückkehr der Zeit.

N.E.: Noch eine Frage dazu: Bis auf sein Requisit einer elektrischen Bühne (bekannter als der Lichtraum Modulator, 1930) zeigte Moholy-Nagy niemals seine Spiegel- und Linsenvorrichtungen vor. Sie bestehen auf der Darlegung der Vorrichtungen. Warum? (Als Vergleich: Thomas Ruff machte neulich riesige „Fotogramme“ im Stil Moholy-Nagys, aber komplett in einer „digitalen“ Dunkelkammer, wo die Spiegel- und Linsenvorrichtungen völlig „virtuell“ bleiben.)

J.M.: Jetzt sind wir wieder bei der Aura. Ich habe eine tiefe Skepsis gegenüber dem Vorgang, Aura durch vorenthaltene Infor- mationen schaffen zu wollen. Verrätseln ist leicht. Wenn sich eine Aura bildet und alle Instrumente offen zutage liegen, zeigt sich die Brisanz der Aura, genauer gesagt: die Brisanz der Entstehung der Aura, in einem ganz anderen Licht. Was ist Aura? Wodurch entsteht sie? Diese Fragen stelle ich neu.

N.E.: Ihre Glas-Skulpturen erinnern mich an die utopische Hoffnung, die im frühen 20. Jahrhundert in den Werkstoff „Glas“ gesetzt wurde (ich lese zurzeit viel Paul Scheerbart); die Skulpturen erinnern mich aber auch an die Zerstörung dieser Hoffnung durch die Corporate Architecture im frühen 21. Jahrhundert. Können Sie unvoreingenommen mit dem heutigen Zustand des Materials Glas umgehen, ohne diese ehemals utopische Hoffnung zu negieren, die in der frühen Moderne mit Glas verbunden wurde?

J.M.: Utopische Hoffnungen an einem Material festzumachen, ist gefährlich. Materialentwicklungen gehen unvorhersehbare Wege, die nicht mehr wir bestimmen, sondern die sich aus der Logik der Materialentwicklung ergeben. Großartige und deprimierende gläserne Konstruktionen lösen die schlimmsten Befürchtungen aus, wenn das Miteinander zur Kontrolle wird. Mein Glas hat mit „Dubai-Glas“ nichts zu tun. Ich habe 1978 nach einem Stoff gesucht, der Reflexe und Schatten bildet und der durchsichtig ist; einen Stoff, der seiner Licht- und Schattenwirkung nicht im Wege steht: Luft, Wasser und Glas. Ich habe mich für das Glas entschieden. Glas ist entweder heil oder kaputt. Es altert nicht, wie andere Stoffe. Sie fragten vorhin nach meinem Verhältnis zu Künstlern der Avantgarde. Meine Vorfahren heißen Vertov, Charms, Mandelstam, Scheerbart. Zu ihnen habe ich nicht das Gefühl der Ferne. Sie sind mir nah, so wie auch Chlebnikow und Ponge. Sie waren nicht so „tapfer“ wie ihre Bauhaus-Kollegen. Sie waren skeptischer, ironischer, verzweifelter. Was für eine schöne, unverhoffte Koinzidenz, dass Sie sich zurzeit mit Scheerbart beschäftigen: Der Schauspieler Martin Wuttke wird an einem Abend in den Räumen der Ausstellung Texte von Paul Scheerbart lesen. Sie beziehen sich in Ihren Fragen auf einen historischen Kontext. Ich sehe selbst auch immer wieder historische Bezüge meiner Arbeit. Ich vergesse sie, sobald ich das Atelier betrete. Da ist kein Programm, das ich abarbeite. Die „Treffen“ mit Moholy-Nagy und Naum Gabo, mit Mandelstam und Vertov, mit Edison und Freud (den beiden Parallel- Existenzen mit ihren Projektions-Mechanismen) finden ja nur von Zeit zu Zeit für mich statt. Meine Nähe zu ihnen wird nicht durch Wissen und Entscheidung hergestellt, sondern durch meine eigene Verfasstheit. Glück und Schmerz eines Dialogs mit den Ahnen besteht ja darin, sich durch die Zeit bewegen zu können, sie zu befragen und manchmal etwas zu hören. Ausschlaggebend ist es, die Instrumente so aufzubauen, dass ein ferner Klang oder ein nahes Geräusch zu vernehmen ist.



1 Walter Benjamin, „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reprodu- zierbarkeit“, in: ders., Gesammelte Schriften, hrsg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Teil vii, Bd. 1, Frankfurt am Main 1989, S. 355. 2 László Moholy-Nagy, „Produktion – Reproduktion“, in: De Stijl, Nr. 7, 1922, S. 100.